Heute hier, morgen dort: Vom albanischen Verkehr
Heute habe ich einen albanischen Zug in freier Wildbahn gesehen. Tutend fuhr er entlang der Autobahn Richtung Süden, zuerst traute ich meinen Ohren nicht und dann meinen Augen.
Zuerst hielt ich ihn für einen hupenden LKW, ehe er sich mit gemächlichem Tempo und drei Waggons direkt durch mein Blickfeld schob. Gemächlich, aber dennoch zu schnell für mich, um das Handy rauszuholen und ihn zu fotografieren. So bleibt bloß die Erinnerung. Gezogen von einer Diesellok wirkten die Anhänger auf mich genau wie jene, die zwischen Essen und Köln bis in die 2000er-Jahre hinein als S6 verkehrten. Die Scheiben waren größtenteils eingeschlagen und symbolisierten damit den Zustand des Bahnverkehrs in Albanien: Es gibt ihn praktisch nicht mehr. Die Bahnhofsgebäude stehen meist verwittert und kaum als solche zu erkennen in verwelkter Blüte, die Gleise sind überwuchert und werden von Schafherden und Ziegenhirten genutzt. Selbst die Hauptstadt Tirana ist seit einigen Jahren nicht mehr per Zug zu erreichen, Verbindungen ins Ausland hatte es wegen der langen wie wirksamen Isolation Albaniens unter Enver Hoxha ohnehin nie gegeben.
Später an diesem Tag erzählt mir Pjetri, der mich in seinem geliebten Toyota von Kavaje zurück ins nebensaisonal verschlafene Golem mitnimmt, dass der Zug zwischen Duerres und Saranda nur noch am Wochenende verkehrt: Einmal hin, einmal zurück, Höchstgeschwindigkeit knapp 40 Km/h, aufgrund der parallelen Nutzung der Gleise als Viehweg zumeist deutlich darunter.
Für mich als Eisenbahnromantiker erhöht das den Reiz dieser Fortbewegung nur, nächste Woche bin ich in Duerres, der zweitgrößten Stadt im Lande und vielleicht glückt mir eine kleine Zugfahrt gen Süden.
Fortbewegungsmittel Nummer 1 ist hier indes der Minibus und will man als Mitteleuropäer eine Reise mit einem solchen unternehmen, so stößt man mit seinen Erwartungen und Planungen schnell an eine diffuse Decke der verdichteten Nichtinformation. Es gibt keine Abfahrtspläne, auch die meisten Haltestellen sind unsichtbar, was nicht bedeutet, dass sie nicht vorhanden wären. Statt mit einem Reiseplan aufzubrechen, ist hier angeraten, einfach zu vertrauen. Die Abreise von Tirana Richtung Küste vor gut zwei Wochen machte mich vor diesem Hintergrund ein wenig nervös, immerhin glaubte ich herausgefunden zu haben, von wo die Busse Richtung Südwesten verkehren. Dort angekommen, werde ich von dutzenden rauchenden Fahrern begrüßt, die mir wie auf einem Basar verschiedene Reiseziele entgegenrufen: „Saranda!”, „Gjirokaster?”, „Elbasan!” - ich hauche leicht überfordert „Vlore” und schon geleitet ein Trupp an Fahrern mich - aus Opportunitätsgründen mittlerweile auch schon wieder rauchend - zu einem kleinen rostblauen Mercedes Sprinter.
Hier und da sind einige Plätze belegt, ich lasse mich in der verwaisten letzten Reihe nieder und warte auf die Abfahrt. Diese erfolgt nicht zu einer bestimmten Zeit, sondern dann, wenn der Bus voll ist. Und voll heißt rappelvoll. Als wir losfahren, sitze ich schließlich eingepfercht ganz hinten rechts, mein Kopf stößt bei jeder Unebenheit an die klappernde Plastikverkleidung, das Fenster endet auf Höhe des Kinns. Der Ellbogen meines Sitznachbarns wird sich für die nächsten drei Stunden beständig in meine Leiste drücken und was ich in Deutschland moniert hätte, nehme ich hier - so weit wie in der Enge möglich - achselzuckend hin. Nach gut einer halben Stunde fahren wir los, passieren eine Schranke, in der ein weiterer junger Mann um Mitfahrt im vollbesetzten Sprinter bittet. Der Deutsche in mir denkt:
„Das geht nicht, dieser Bus ist voll. Es gibt nicht einen regulären Sitzplatz mehr.”
Der Fahrer indes greift unter sich, bugsiert einen Plastik-Klapphocker heraus und stellt diesen gleich neben sich in den Gang. Der junge Mann nimmt Platz und hält sich auf der holprigen Strecke in der Folgezeit immer wieder an der Kupplung fest. Der letzte Satz war gelogen.
Auf der folgenden Fahrt verlängert sich die Reihe aus Plastikhockern, die auf dem Gang platziert werden, immer wieder hält der Bus an für mich völlig unscheinbaren Stellen, weitere Passagiere steigen zu und erhalten ihren Sitzplatz gleich in die Hand gedrückt. Für einen Deutschen ist das natürlich bereits ein wahnsinniges, bis zur Fassungslosigkeit reichendes Abenteuer, für einen Albaner offenbar Alltag und manchem Reisebericht zufolge steht auch durchaus mal ein Esel im Gang der Busse.
Ich schaue geduckt aus dem Fenster und erfreue mich daran, wie sich der Speckgürtel um Tirana langsam in Landschaft auflöst, so wie sich mein dort erfahrenes Trauma mit jedem Kilometer lindert. Nach drei Stunden Fahrt spuckt mich der Bus mit starrem Nacken und schmerzender Leiste am Küstenort Vlora aus. Apropos leisten: Die dreistündige Fahrt kostet keine 4 €. Damit käme ich in Deutschland kaum 15 Kilometer weit. Dass das nun einzuführende 49€-Ticket an eine positive Schufa-Auskunft gebunden ist, verdeutlicht die bundesdeutsche, an Asozialität grenzende Ignoranz Asozialität gegenüber ihren ärmeren Insassen eindrücklich. Böser, böser Bundesadler. Auf der eher wohlhabenden sizilianischen Mittelmeerinsel Pantelleria kostet eine Fahrt von der einen zur anderen Seite der Insel niedliche 1,30€, bietet dafür Fröhlichkeit, Freundlichkeit und Ausblick. Eine normale, also mehr oder minder innerstädtische Busfahrt - auch hier kommen zumeist ausgemusterte deutsche Linienbusse zum Einsatz - kostet in Albanien regulär 40 Lek. Das sind kaum 35 Cent. Der Fahrer fährt, der Ticketverkäufer kassiert und der Kontrolleur reißt das Papierticket wieder ein. Drei Jobs in einem rappelvollen Bus, dessen Passagiere sich die Fahrt leisten können. Wer nun auf den ersten Blick richtigerweise einwendet, dass der deutsche Durchschnittslohn ja nun einmal um ein Vielfaches höher liegt als sein albanisches Pendant, der möge diesen Durchschnittslohn doch bitte vor Ort, also in deutschen Bussen und Zügen erheben. Das Vielfache wird um ein vielfaches schmelzen und die deutschen Preise für Mobilität als das erscheinen, was sie sind: Asozial. Kein armes Schwein braucht vollklimatisierte Züge, die mit dem Unternehmensparfüm gebrandet werden und die mittels kalter Computerstimmen einen Hauch von Moderne oder eben Dystopie vermitteln. Mein diesbezüglicher Favorit des Grauens ist übrigens die in und um Leverkusen verkehrende Wupsi, wo eine blechern Eiseskälte versprühende Corona-Computerstimme alle zwei Stationen quadratisch vermeldet:
„Wir wollen, dass sie sich sicher fühlen. Darum bleiben die Fenster während der Fahrt geöffnet. Vielen Dank.”
Emphatische Maschinen, die sich um organische Gesundheit sorgen. Wenn ich Sciencefiction will, dann gehe ich ins Kino. Das kostet etwas weniger als ein einfaches Ticket von Wuppertal nach Köln, bietet aber in der Regel bessere Dialoge. Noch ein Pluspunkt dieses improvisiert erscheinenden, aber pulsierenden öffentlichen Nahverkehrs in Albanien? Da nirgends Abfahrtszeiten stehen, kann er nicht unpünktlich sein und damit auch keine braven Bürger unnötig frustrieren.
Heute also verlasse ich für einen Tagesausflug das zwischen Winterschlaf und Frühlingsputz steckende Golem, um in die Kreisstadt Kavaja zu fahren. Dafür stelle ich mich einfach dort hin, wo schon Menschen stehen. Die erste Menschentraube ist komplett in schwarz gekleidet und nach einer Viertelstunde dämmert es mir, dass dies keine Haltestelle, sondern der Treffpunkt einer Trauergemeinde ist. Eine Ecke weiter steht die nächste scheinbar wartende Gruppierung, dieses mal farbenfroher gekleidet und tatsächlich hält hier gut zehn Minuten später ein kleiner Bus. Die Passagiere steigen ein, der Busfahrer geht sich eine rauchen und ein rangierendes Auto kollidiert wenig später spürbar mit dem Heck des ÖPNV-Vehikels. Was in Deutschland eine Kettenreaktion an betriebsbedingten Verspätungen und einem Knäuel versicherungstechnischer Verwicklungen nach sich gezogen hätte, wird hier von einem stoisch weiterrauchenden Busfahrer ohne erkennbare Reaktion registriert und offenbar nur lapidar kommentiert.
In Kavaja angekommen finde ich das, was ich an diesem Tag gesucht habe: Eine Stadt jenseits leerer Hotels und Supermarktregale, stattdessen frisches Gemüse direkt vom Feld an den Straßenrand gekarrt und Fleisch aus Metzgereien im Miniaturformat. Männer fläzen sich auf Pappkartons vor Häusern und werden entgegen des ersten Eindrucks der Obdachlosigkeit bald von Frauen ausgeschimpft, die aus den Häusern kommen: So können nur Ehefrauen schimpfen und kurz darauf servieren sie ihren faulen Männern Eintopf und Brot, die diese genauso ruhig zu sich nehmen, wie sie vorher die Schimpftiraden über sich haben ergehen lassen.
Vom kürzlich begonnenen Ramadan lassen sich hier übrigens nur wenige Anzeichen bemerken: Die Cafés sind voll und unterhalb der Moschee sammeln sich in kleinen Grünflächen dutzende Männer, die Sonnenblumenkerne mahlend und - natürlich - rauchend den verschiedensten Brett- und Kartenspiele nachgehen. In einem weiteren, deutlich größeren Park einen Steinwurf weiter grast eine Schafherde zwischen Picknickern und fußballspielenden Kindern. So schlendere ich durch die kleine Stadt, irgendwann hartnäckig verfolgt von einem Kind, das unentwegt auf einem alten Waschmitteleimer einschlägt. Als ich stehenbleibe und mich umdrehe, schließt der vielleicht achtjährige Junge kurz auf, lächelt restmilchzahnig und deutet unmissverständlich Hunger an. Ein Lek wechselt den Besitzer und plötzlich kommen aus allen Richtungen weitere Kinder mit improvisierten Trommeln gelaufen. Ich versuche noch zu flüchten, komme mir bald peinlich berührt wie der Anführer dieser trommelnden Prozession vor und gebe schließlich auf. Münzen wechseln die Hände, bis wirklich nichts mehr klimpert und auf meinem Rückweg sehe ich die ganze Bande Wassereis essen. Von wegen Hunger!
Zurück am Busbahnhof von Kavaja warten schließlich nur noch Taxifahrer, die mir mit Händen und Füßen klarmachen, dass der letzte Bus nach Golem vor kurzem abgefahren ist. Für ein Taxi langt mein Bargeld nicht mehr und so beschließe ich, immerhin Ex-Postbote, die gut zehn Kilometer zu Fuß zu absolvieren.
Den nächstbesten Mann nach der Richtung fragend, lacht dieser nur und weist winkend geradeaus, geradeaus, geradeaus. Hundert Meter weiter hält ein Auto neben mir, drinnen der Mann, den ich gefragt habe, die Beifahrertür öffnend ruft er: „I Duerres, you Golem!” Ich steige dankbar ein, bugsiere die Einkäufe auf dem Rücksitz und auf den folgenden wenigen Kilometern unterhalten wir uns derart angeregt, dass wir die Abfahrt nach Golem verpassen und eine Extrarunde drehten. Pjetri heißt er, ist Bau-Ingenieur, verachtet die Marke Mercedes und liebt Toyota. Ich erzähle ihm vom legendären Starlet meines Vaters und er erzählt, dass er vor kurzem mit seiner Frau - Zahnärztin - auf einem Dentalkongress in Köln war. So besuchte er meine Heimatstadt und ich werde nächste Woche seine Heimatstadt Duerres besuchen. Ich kann es nicht lassen, das Gespräch auf gegenwärtige und vergangene Politik zu lenken. Für gewöhnlich träumen die Albaner vom EU-Beitritt, mir steht kein Kommentar diesbezüglich zu, allerdings wird sich die wirklich hochwertige Qualität albanischer Lebensmittel wohl kaum halten können, wenn erst einmal deutsches Billigfleisch und spanische Treibhausghetto-Tomaten ihren zollfreien Weg ins Land finden. Pjetri hält indes als kluger Mann weder von der Zukunft in einer kapitalistischen EU noch von der kommunistischen Vergangenheit sonderlich viel: „For me all politicians are bad!” Der Weg in die Herzen des Gegenübers ist häufig ein sehr kurzer, weil direkter.