Oktober 2022: Die rauschende Stille von La Gomera
"Wenn ich aufblick, dann ist Ausblick, wenn ich aufsteh, dann ist Ausflug" - ein fast durchgehend herzenswarmer Rückblick auf La Gomera.
Als ich nach einer recht turbulenten Anreise endlich an meiner Unterkunft - einem knapp 100 Jahre alten Bauernhaus, hier Casa Rural genannt - ankomme, glüht meine Gute-Nacht-Zigarette in grandioser Dunkelheit.
Um mich herum tost eine Stille, die tatsächlich ein kaum in seinen Einzelheiten zu definierendes Sammelsurium an akustischen Eindrücken beherbergt: Es klingt nach Wildnis und Tieren, nach dem Rauschen im Nachtschatten liegender Berge, nach dem Tosen uralter Energien: Ich bin auf Gomera! denke ich mir noch kurz vor dem Einschlafen, stolz wie glücklich es auf diese Insel geschafft zu haben.
Der nächste Morgen ist ein Morgen, wie die meisten meines Aufenthalts hier aussehen werden: Ich öffne die Tür, die Felswand gegenüber changiert in den unterschiedlichsten Grüntönen und je nach Lichteinstrahlung wechseln diese wie unter dem steten wohldosierten Einfluss von Lysergid. Alles scheint gleichzeitig in Stille und Ruhe dazuliegen und sich doch permanent zu bewegen und ineinander zu verwirbeln. Gegen halb zehn steht die Sonne hoch genug, dass sie knapp das Ziegeldach meiner Behausung streift und den mosaikverzierten Tisch, an dem ich meinen Kaffee zu trinken pflege, in einen goldenen Schimmer taucht.
Die Tiere der Nacht haben sich rechtzeitig wieder in die tiefbraunen Erde, Felsspalten oder das urwaldgleiche Grün zurückgezogen, allen voran Ommatoiulius moreletti, ein Tausendfüßler, der sich für gewöhnlich gut versteckt hält, aber in den feuchten Nächten zu Millionen seinen Unterschlupf verlässt um sich - Forscher rätseln noch immer warum - stur von West nach Ost zu bewegen. Irritiert werden diese Tiere dabei von künstlichem Licht, was mitunter dazu führen kann, dass diese Tiere zu Herrscharen ganze Hausfassaden bevölkern und diese komplett bedecken.
Die Gastgeberin, Señora Tiberio, eine unentwegt werkelnde ältere Frau, beginnt jeden neuen Tag mit einem Besen in der Hand. Pico hingegen - ein kleiner Welpe unbekannter Zeugung - beginnt jeden Tag damit, dass er meinen großen Zeh oder die Schnauzen der herumstreunernden Katzen abschleckt und auch wenn ich es gar nicht so mit Tieren habe, erliege ich seinem Charme in Windeseile. So trinke ich Kaffee, mal kommt die ältere Frau mit Besen vorbei, mal Pico mit wedelndem Schwanz, mal eine miauzende Katze. Alle paar Stunden fährt oben auf der Straße der hier Guagua genannte Bus und ich sitze in all dem ruhigen Trubel und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Meine Tage hier sind sachlich betrachtet von einer gewissen Eintönigkeit geprägt, doch subjektiv wird mir in den nächsten 30 Tage nicht eine Sekunde langweilig sein. Es ist ein wenig wie der zauberhafte Zustand der Frischverliebten, die ganze Tage im Bett verbringen und sich dabei in keinem Moment fragen, ob das Leben da draußen nicht mehr zu bieten hätte.
Alle zwei Tage bewege ich mich über den Berg und von dort weitere fünf Kilometer nach Vallehermoso, um meine lebensnotwendigen Einkäufe zu tätigen. Zurück schleppe ich einige wenige Estrella Galicia, 10-Liter-Wasserballons, Gemüse, Fleisch, Brot und Kaffee direkt von der Insel. Obst brauche ich nicht zu kaufen, fast täglich kommt die alte Gastgeberin, die mich schwer an meine Oma erinnert, mit Orangen, Zitronen oder Bananen im Miniaturformat. Jene kleinen Bananen - hier Platanas genannt - sind mit La Gomera eng verbunden, haben der Insel einst (vor dem Siegeszug der CIA-Marke Chiquita) wichtige Einnahmen beschert und waren bis in die 1970er-Jahre auch in deutschen Supermärkten zu finden. Nun wird kaum noch exportiert, die Plantagen ziehen sich dennoch durch fast jedes Tal der zerfurchten Insel, bewirtschaftet fast ausschließlich von den Alten, derweil die Jugend das wirtschaftliche Glück in der Ferne oder auf den Nachbarinseln sucht. Zwischenzeitlich gab es reichlich Versuche der EU, den entstandenen Schaden wieder gutzumachen und der mitunter verarmten Insel auf die Beine zu helfen; ein besonders abstruses Beispiel dieser Suventionen stellt wohl der Bau eines beheizten Hallenbades gleich an der Küste von Hermigua dar. Die Temperatur des Atlantiks fällt hier selten unter 20 Grad, gleiches gilt für die Lufttemperatur, der festgestellte Bedarf an Hallenbädern ist entsprechend gering und dennoch wurde mit reichlich Fördermitteln aus Brüssel gebaut. Nach einem Monat Betrieb stellte die Gemeinde Hermigua jedoch fest, dass der Energieverbrauch nicht zu bezahlen ist und seither ist das nagelneue Hallenbad Pilgerstätte für zahlreiche Lost-Places-Abenteurer.
Für diese hat Gomera ohnehin reichlich zu bieten, unweit des Strandes von Vallehermoso beispielsweise das Castillo del Mar, einst Verladestation für eben jene Plátanos, darauf brachliegend, dann Kulturzentrum und nun wieder brachliegend: Eine auf Säulen im Meer stehende Ruine, der wilden Reibung des Atlantiks von unten und stetem Steinschlag von oben ausgesetzt.

Ich für meinen Teil treibe mich meist um Roque Cano herum, sagenumwobenes Wahrzeichen der Insel und dicker Fels, der über Vallehermoso thront. Aus einem Blickwinkel sieht er tatsächlich dem Kopf eines Hundes ähnlich, was seinen Namen erklärt. Ich pflege bald eine zärtliche Beziehung zu diesem steinernen Koloss, der mir zugleich Wegmarke wie Symbol ist. Unter ihm verläuft so etwas wie eine Autobahn, die zumindest in der Nebensaison noch so wirkt, als wäre das Automobil gerade erst erfunden worden: Mit gemächlicher Geschwindigkeit kurvt es sich hier um die Berge herum, das Brummen der wenigen Autos kündet sich bereits aus einigen Kilometern Entfernung an und mit entsprechender Gelassenheit läuft es sich auf diesen Pisten. Zweimal am Tag kommt dann auch der Guagua, der Vallehermoso mit der Inselhauptstadt San Sebastian verbindet, eine pulsierende gomerische Metropole mit fast 7.000 Einwohnern. Diese wirklich luxuriösen Busse punkten durch bis auf Kniehöhe reichende Panoramafenster sowie einer wahnsinnig großzügig gestalteten Beinfreiheit und bieten so den ermüdeten Wanderern gute Gelegenheit zum Ausruhen und Rausschaun.
Überhaupt: Wandern. Gefühlt bietet Gomera fast alle Klimazonen dieser Welt, karge Felslandschaften entpuppen sich einen Berg weiter als nebliger Wald, auf Steinwüste folge Palmenhaine, folgen Laubwälder, allen voran der hier noch nahezu unberührte Lorbeerwald, der einen Eindruck davon gibt, wie auch Mitteleuropa vor der Eiszeit ausgesehen hat. Dann wieder schroffe Felsen, die gleich in Atlantik ragen und kaum ein Fleck, der nicht von den Mythen aus der prä-kolonialen Zeit vor der spanischen Besetzung erzählt, beispielhaft sei hier die herzzereißende Geschichte von Gara und Jonay erwähnt.
Stundenlag begegne ich auf meinen Streifzügen nicht einer Menschenseele und fühle mich dabei von allen guten Geistern begleitet. Nachts schlafe ich wie ein Bär und tagsdrauf das Ganze von vorn: Die Sonne hebt sich über die Casa Rural, ich trinke Kaffee, lasse mir von Pico den Zeh schlecken, radebreche mit Señora Tiberio über das schöne Wetter oder den heute verspäteten Guagua. Kommt der Bus tatsächlich gerade durch das Panorama gefahren und die Señora ist in der Nähe, zeige ich aufgeregt auf ihn und rufe Señora! Guagua!
Ich bin ein pausbackiger Lausbub, der aus dem Staunen nicht mehr rauskommt - das schreibe ich irgendwann in mein Notizbuch, ansonsten recht sprachlos über die prasselnden Eindrücke und meine leicht ins Infantile weisende Entwicklung auf dieser Insel.
Lediglich an einem Tag bekam diese friedensstrotzende Idylle einen kleinen dunklen Fleck ab, der mich mit meiner Vorliebe für Abstruses noch heute lächeln lässt: Ich wollte gerade den Müll wegbringen, Pico lief schwanzwedelnd vor mir her und schloss bald zur alten, mal wieder den Hof fegenden Señora Tiberio auf. Alles war wie immer, ehe die alte Frau sich unvermittelt umdrehte, den Besen in die Luft schwingend dem kleinen Pico drohend. Ihr sonst so freundliches Gesicht war plötzlich zornesfaltig und die Welt stand still. Dann erblickte sie mich und ließ den Besen wieder sinken, gleichzeitig hoben sich ihre Lippen zu einem Lächeln. Pico suchte eilig das Weite, seine streunende Mutter oder seinen unbekannten Vater und ich tat so, als hätte ich nichts gesehen. Und lächelte zurück.
Berichten Deutsche von ihren Gomera-Erfahrungen, so berichten sie meist vom Touristenhotspot Valle Gran Rey, das - auf diesem quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Blog darf ich es verraten - der hässlichste Ort der Insel ist und nicht umsonst die einzige Müllkippe beherbergt. Wer sich unter seines Gleichen befindend und Aperol Spritz trinkend als halber Hippie fühlen möchte (und damit quasi als Promenadenmischung), dem sei dieser Ort angeraten, allen anderen empfehle ich wirklich und von ganzem Herzen den kaum besiedelten Norden dieser rauschenden Insel. Julian - ein junger Familienvater, der mit seiner Familie eine Bergebene unter mir wohnte - hatte mir dringend von Valle Gran Rey abgeraten und mir prophezeit, ich würde meinen Mageninhalt auf der dortigen Promenade verlieren. Aber ich wollte ja nicht hören, zwei Tage vor der Abreise begab ich mich in dieses Pauschalparadies der Gymnasialpädagogen und gab mir ihre schnöde Auffassung von Alternativität. Es war schlimm.
Der von mir angesteuerte Trödelmarkt entpuppte sich als abstrus überteuerter Nippesmarkt für Teilzeithippies und die Promenade könnte so auch Binz auf Rügen sein. Als ich mit einem Tütchen dort entlangschlenderte, den geprobt wie grotesk lüsternen Blicken der Pädagoginnen unter ihren albernen Urlaubshüten geschickt ausweichend, lief ich fast der Guardia Civil in die Arme. Deren Interesse galt allerdings nicht mir, sondern einer grauenhaften Szenerie. Ein Zinksarg, am Strand abgestellt, eine trauernde Frau in Badekleidung, andere Urlauber knallbunt gekleidet wie ratlos sie tröstend. Ein abstruser wie grausamer Anblick, der hier allerdings zum Inselalltag gehört: Spätestens ab Oktober ist der Atlantik eine beständig tosende Unberechenbarkeit und auch dort, wo er ruhig dazuliegen scheint, ziehen Untergrundströmungen vornehmlich festlandeuropäische Rentner vom flachen Wasser hinaus auf die offene See: Mit 74 Menschen erreichte die Zahl Ertrunkener im Jahr 2022 eine neuen Höchstwert auf den Kanaren. Auf La Gomera war ich nicht eine Sekunde im Wasser, nichtmals knietief. Das Klackern der in der Brandung purzelnden dicken Steine untermalte die zahlreich ausgesprochenen Warnungen der Einheimischen, die ihren Respekt vor dem Meer auf alle Weisen und in Strophen und Gedichten ausdrücken.
La Gomera ist kein Ort für den Badeurlaub, La Gomera ist auch kein Ort für eitle Hippie-Phantasien. Die Aussteiger, die ich hier kennengelernt habe, hausen ausgemergelt hinter Müllbergen oder in Ruinen, unwillig oder unfähig, sich einzugestehen, dass ihr gelebter Traum ein alltäglicher Kampf ist und sie letzlich bloß die Dekoration für pauschaltouristische Sehnsüchte darstellen, mehr und mehr missbilligend beäugt von den Bewohnern der Insel.
Dass ihre eifrig trommelnden Hände vielleicht besser bei den Platanos und deren Pflege und Ernte aufgehoben wären, als dem westlich-dekadenten Mantra der Von-Luft-und-Liebe-Leben-Sekte zu frönen und so wirklich dieser Insel zu dienen, sagte ich ihnen wiederum aus Gründen der Freundlichkeit nicht. Was ich sagen will? La Gomera ist keine Hippie-Insel und kein Badeparadies. Es ist eine Insel, die im Wesentlichen noch immer von der täglich betriebenen Landwirtschaft und einem fern von Gran Rey sehr sensibel gestalteten Tourismus lebt. Eine Insel, die jenseits von Valle Gran Rey und San Sebastian kaum ein Haus über drei Etagen zeigt und dafür vor allem eines bietet: Sagenhaft rauschende Ruhe und sprachlos machende Ausblicke. Eine Insel, auf der die Uhren wirklich langsamer zu ticken scheinen - und dennoch ging kaum ein Monat in meinem Leben schneller vorbei als jener auf La Gomera.
Mitte November nahm ich mit einer Träne im Auge Abschied von dieser Insel wie von einer Geliebten und bestieg widerwillig die Fähre nach Teneriffa. Nun ging die Hauptsaison los und spätestens zu den Weihnachtsferien würde das halbe bundesdeutsche Lehrerkollegium seine Sehnsucht nach temporärer Alternativität hier ausleben. Sich alberne Al-Capone-Hüte tragend die Waden verbrennen und Selfies schießen. Derweil schießen analog auch die ohnehin saftigen Preise in die Höhe. Ich als freischaffender Tastaturknecht konnte mir die Insel schlicht nicht mehr leisten, ohne die Verwahrlosung zu riskieren. Immerhin hatte ich mehrfach zuhause versprechen müssen, nicht als Höhlenbewohner zu enden: Versprechen gehalten!