Tirana 3/3: Nächtliche Versöhnung
Nachts, bei einer vermeintlich letzten Zigarette auf dem Balkon, mache ich plötzlich und unerwartet meinen Frieden mit Tirana.
Die Stadt ist fast ruhig, nur ab und an ist ein Auto zu hören. Der Rest der abertausenden Karren steht je nach Hubraumgröße und Lackierung entweder in den Tiefgaragen oder abgestellt auf den Gehwegen. Der Spielplatz im Schatten der unterschiedlich gewachsenen Plattenbauten gehört nun den Straßenhunden, die ihn und sich beschnüffelnd umkreuzen. Ein riesiger, hinkender Hund betritt die Szenerie, auch er friedlich wie überhaupt die von mir anfangs gefürchteten frei lebenden Hunde kaum Interesse an Zweibeinern zeigen. Grundentspannt wirken sie. Bei der Zigarette davor, die Stadt noch etwas lauter, der Platz noch etwas belebter, fiel mir auf, wie menschenähnlich diese Tiere in ihrem Paarungsverhalten sind. Der Dicke, der offenbar eine Hündin ist, sah sich hartnäckigen Avancen eines Kleineren ausgesetzt. Aufgeregtes Schwanzwedeln auf der einen Seite, leicht genervt erscheinende Stoik auf der anderen Seite. In wenigen Stunden machen sich die Zweibeiner dann wieder auf und besteigen ihre Karren, die einen, weil sie es müssen, die anderen weil sie es wollen. Dann lassen sie wieder ihre Motoren lautstark erklingen, geben für fünf Meter Gas, nur um dann doch wieder im kurz vor Kollaps stotternden Verkehr abzubremsen. Der 10-Minuten-Fame Orwells ist hier wie an vielen durchasphaltierten Orten das wenige Meter andauernde Protzen in einem stickigen und stockenden Verkehr.
Morgen wird diese Stadt mich wieder betreten machen in ihrer Melange aus Armut und Zurschaustellung westlicher Luxusmanieren, die ich so bislang nur aus Gangsterhiphopvideos der 90er Jahre kannte. Die ärmeren Regionen eifern immer hinterher und so hängen sie immer etwas hinterher. Frisurentechnisch, modetechnisch, lifestylemäßig. Als ich vor acht Jahren das erste Mal so richtig tief im Osten Deutschlands unterwegs war, fiel mir diese Diffusion des Nacheiferns das erste mal auf. Hatte man im Westen Deutshlands die blasspinke Blondierung der Haare bereits einige Jahre hinter sich gelassen, blühte sie in Gera, Eberswalde und Magdeburg gerade erst so richtig auf. Hier ist alles noch heftiger, diese Stadt wäre so gerne Teil des ganzen Spiels, dessen Epizentrum NYC ist. Dass man dort längst auf Elektromobilität und vegane Speisen setzt, das kommt dann hier in zehn Jahren an, bis dahin sitzt man weiter auf der Ersatzbank. Bis dahin röhren die SUVs mit dem Mercedes Stern und wieder gibt es einen Grund mehr, sich als Deutscher im Ausland zu schämen. Verstehen würde das hier niemand, sie bewundern uns offen. Gjerman Colors, German Quality an allen Ecken und Enden. Selbst der bei uns als 1€-Store verbreitete wie verschriene und eher aus Notlage denn aus freier Wahl Kunden anlockende Ramschladen wirbt hier selbstbewusst mit der Aufschrift: Gjerman Standard. Den Hunden ist es egal und lebten sie nach dem Gjerman Standard, so würden sie sich anders ihre Avancen machen und ihre Körbe verteilen. Festgeschnürt an einer strammgespannten Leine dürften sie sich neben ihren gestressten Herrchen und Frauchen kurz beschnuppern, um bei jeder falschen oder falsch aufgefassten Bewegung die Strafe sogleich um den Hals zu spüren. Wie straff kann eine Leine sein? Und warum gilt es als allgemeingültig richtig, die Straßenhunde zu bemitleiden und jene sich mit den Neurosen ihrer Besitzer ansteckenden deutschen Stadthunde als artgerecht gehalten anzusehen? Die Frage darf an die Zweibeiner weitergeleitet werden: Wie glücklich wirkt der mittellose Maronenverkäufer, der inmitten der Abgase tagein tagaus im Staub hockend das gleiche tut, gegenüber dem hinter verspiegelter Sonnenbrille hockenden, hinten Abgase und selber Eiseskälte ausatmenden Arsch im AMG, der seine überproportionierten Proporz-PS tageintagaus durch den kollabierenden Verkehr seiner armen Landsleute peitscht? Zehn Meter Glück im StopandGo gegen fünfzig Jahre Maronen braten. Ich wüsste mich zu entscheiden. Auch das würde hier niemand verstehen, auch das würde wohl zuhause niemand verstehen, aber ich fühle es und kann nicht anders.
Elegance, Luxus, Gold, Gjerman Standard und American Computer, das steht hier an jeder Ecke fünfmal geschrieben. 10.000 flackernde LED-Leuchtschriften kommen auf ein ungeschicktes Grafitto, das dennoch eine Heldentat ist. Kaum eine Kreuzung, die Abwechslung verschafft, kaum ein Kaffeehaus, das darauf verzichtet, sich als Lounge zu bezeichnen. Wo ist Albanien? Wo ist die Kultur? Wo sind die alten Häuser, wo ist das Gewachsene? Das in hippen Affiliate-Link-Reiseführern als alternatives Viertel gepriesene Blloku nennen die Tiraner Quartier der jungen Elite. Mir kommt der Verdacht, dass die Hauptstadt eines jeden Landes eine Filiale des Kapitals ist, die ihre Identität erst zerschmettern und dann von Werbeagenturen neu erfinden lassen muss. Das Resultat sind im besten Fall Beton gewordene wie leidenschaftslose Eitelkeiten. Autohäuser aus Alu und Glas. Wolkenkratzer, die an das albtraumhafte FilmNoir-PC-Spiel Max Payne erinnern. Immer weniger Kneipen und immer mehr Apotheken. Nachts muss allerdings immer noch geschlafen werden, dann kommen die hinkenden und die geilen, die störrischen wie gestörten Hunde raus und ich? Finde rauchend auf dem Balkon kurz Frieden und entwickle gegenüber den Straßenhunden unerwartet zärtliche Gefühle. In wenigen Stunden werde ich sie wieder verfluchen, diese Stadt der täglich wiederholten Opfergabe, diese Stadt der prätentiösen Selbstaufgabe. Diese Ärsche in dicken Karren, dieses Nacheifern, das Hupkonzerte wie hochansteckende Krankheiten fabriziert. Und Sizilien werde ich inmitten alldessen wohl auch wieder vermissen. Da hupte man auch beständig, aber es klang charmant. Hier hingegen klingt das Hupen wie der Teilnahmenachweis: Einer tut es und die anderen tun es ihm nach. Völlig ohne Grund, völlig ohne Sinn. Heute sah ich jemanden Hupen, der gleichzeitig zum Kotzen desinteressiert durch seine Sonnebrille auf sein Handy starrte, derweil er seine 150 PS durch die angeblich langsam aufstrebende Armut steuerte. Ich habe ihn gehasst. Als Gast in seinem Land. Noch aber ist Frieden.