Under my umbrella: Hermine auf Kanarenkurs
Wuppertal und Las Palmas de Gran Canaria: Beide Städte verbindet, dass ich vom Ausmaß des Regens als jeweiliges Jahrhundertwetterereignis nur indirekt erfahre. Obwohl ich mittendrin war.
Wuppertal, 29.05.2018
Als Wuppertal gleich unter meinem Fenster in Sturzfluten zu ertrinken droht, die unteren Ebenen von Einkaufsmalls überflutet werden und unweit in Unterbarmen das Dach einer Tankstelle unter den Regenmassen ebenso zusammenbricht wie Teile der Universität, befinde ich mich in bester Gesellschaft in meinem Bett und habe besseres zu tun, als aus dem Fenster zu schauen.
Als wir dann einige Zeit später recht zerzaust aus dem Haus treten, staunen wir, weil plötzlich große Teile des Gehwegs fehlen. Wir finden die fehlenden Pflastersteine weit fort gespült unten an der Kreuzung in der Talachse wieder und lächeln uns mit einer Mischung aus Verlegenheit und Stolz an. Feuerwehrautos brausen durch knietiefes Wasser an uns vorbei, es scheint, als wäre die Wupper zum Amazonas geworden. Aus allen Gullis rauschen Wasserspiele, aus allen Hauseingängen werden im munteren Takt der Verzweiflung volle Eimer geschüttet, derweil sich zaghaft schon wieder die Sonne zeigt. Das alles geschah, während wir in der schwülwarmen Luft kopulierten, durch eine Decke der Leidenschaft abgeschottet von einem meterologischen Jahrhundertereignis, das sich direkt hinter dem Fenster abspülte.
Abends waren die Bilder aus Wuppertal dann überall im bundesdeutschen TV zu sehen, da befand ich mich allerdings schon auf dem Weg nach München, um auf einem kleinen Festival zu spielen. Dort am nächsten Tag ankommend, wurde ich empfangen wie der Überlebende einer unfassbaren Katastrophe, von der ich leicht beschämt recht wenig mitbekommen hatte. Ich war allerdings auch schon längst Wuppertaler genug, als dass ich den Regen noch als etwas besonderes ansah: Wenn die Inuits 100 Wörter für Schnee haben, hat der Wuppertaler mindestens ebenso viele Begriffe für die Niederschlagsintensität. Fast westfälisch anmutende stoische Gelassenheit: Dröppelt halt.
Drei Jahre zuvor war ich nach Wuppertal gezogen und staunte als Flachlandrheinländer zunächst noch mächtig, wie der Regen hier nicht etwa schnöde in Pfützen fiel und dort mehr oder weniger verblieb, sondern sich seine glitzernden Wege bahnte, die Straßen hinab, die Treppen hinab. Mich hätte es kaum weniger fasziniert, wenn der Regen sich in seinen glucksenden Bächen seinen Weg sogar bergauf gebahnt hätte.
Las Palmas de Gran Canaria, 25.09.2022
Zehn Tage ist es nun her, dass ich Wuppertal vorerst den Rücken gekehrt habe, um den Winter auf den Kanarischen Inseln zu verbringen. Meine erste Unterkunft liegt in der kleinen Stadt Tenoya gleich oberhalb der Hauptstadt Las Palmas de Gran Canaria. Um mir das Ganze leisten zu können, muss ich gerade in diesen ersten Tagen nach der Ankunft recht viel in ein Macbook hacken, ab und an unterbrochen von einer Zigarettenpause, die in der Regel unter einem strahlend blauen Himmel stattfindet. Heute aber tatsächlich - ich halte prüfend die Hand in die Luft - leichter Fisselregen. Ich freue mich heimlich, weil so ein wettertechnisch unentschlossener Tag eine hervorragende Gelegenheit bietet, durchzuarbeiten um tagsdrauf ohne einen Gedanken ans Schuften wieder in der Sonne darben zu können.
Kleiner Spoiler: In einem durchschnittlichen September fallen in Las Palmas kaum 15 Millimeter Niederschlag; Wuppertal kommt auf gut 90mm. In den folgenden Stunden sollte über Las Palmas schließlich fast die zehnfache Menge des ortsüblichen Monatsdurchschnitts niedergehen - und damit sogar etwas mehr als an jenem Maitag 2018 in Wuppertal. Verantwortlich dafür war Hermine, ein Tropensturm, den ich diesmal nicht im Bett, sondern vor dem Macbook hockend in seinem Ausmaß nicht wirklich mitbekam. Den ich zunächst, nachdem das Fisseln zum Tröpfeln und schließlich zum Prasseln wurde, eher im Rahmen eines normal verregneten Wuppertaler Nachmittags eingestuft hatte - mit einem eklatanten Unterschied: Dieser kanarische Regen roch wahnsinnig gut nach Blütenduft und warmem Asphalt. Ich genoss die aromatisierten Zigarettenpausen und dachte mir mal wieder nix Böses.
Fünf weitere Seiten später, wieder Zigarettenpause, Himmel dunkel: Die Tropfen werden heftiger, wenig später fällt erst der Strom kurz und dann das Internet länger aus. Mich dünkt, hier stimmt was nicht. Ich beende meinen Arbeitstag und schalte den Fernseher an. Dort zeigen sie auf jedem der kanarischen Fernseh-Kanäle Regen und nochmal Regen. Zugegeben (auch als Wuppertaler): Wie sich so ein Barranco in einen Fluß verwandelt, ist beeindruckend. Genauso wie die dutzenden Bilder, die plötzlich in sonst knochentrockenen Ortschaften prasselnde Wasserfälle zeigen. All die hübschen Moderatorinnen mit Regenschirmen und Gummistiefeln, die sichtlich beeindruckt über Dinge reden, die ich nicht verstehe, dazwischen Bilder vom Stadtstrand Las Canteras. Der Tunnel unter der Promenade, in dem normalerweise die Jugend dem Schatten frönt, erfüllt plötzlich seinen eigentlichen Zweck: Als Kanal, der das Wasser durch die abertausend Zerfurchungen der Zuckerhutähnlichen Insel in den tosenden Atlantik leitet. Sprudelnde Gullideckel, eingesunkene Gehwegplatten, abgestürzte Felsbrocken, Blaulicht und Stillstand. Und ich mittendrin und kriege es wieder nur durch die Medien mit. Zu den katastrophalen Eindrücken gesellen sich zunehmend sehr niedliche Bilder, die die Faszination am Phänomen zeigen: Was sie sichtlich beeindruckt, die Canarios, das ist der Regen an sich. Wie er sich im Schein der Straßenlaternen bricht, unaufhörlich und ergiebig. Wie aus einer von heißer Flüssigkeit geformten und dann großflächig ausgetrockneten Landschaft plötzlich eine nasse, und wenige Tage später satt grün wuchernde Insel wird. Der Barranco gleich vor meiner Haustür führte in den folgenden Tagen noch einiges an Wasser von den Bergen Richtung Meer. Ein Spaziergang wurde zur Kneippbehandlung, die Idee, trockenen Fußes nachhause zu kommen, erledigte sich nach zwanzig Metern. Regenschirme blieben ausverkauft, aber ich hatte ja für schlechtes Wetter extra mein Cord-Jackett eingepackt.
Zurück ins Akute: Manana llovera con fuerza! steht in der Laufschrift der TV-Sondersendung. Hätte ich noch Internet, könnte ich rausfinden, was morgen mit fuerza angesagt ist. Llovera. Liebhaber? Morgen haben sich kräftige Liebhaber angesagt? Klingt besorgniserregend aus meiner Warte. Dann wieder schöne Moderatorin mit Umbrella. In einer Animation zeigen sie darauf Wasserhöhen von 20, 45 und 75 cm im urbanen Raum, der wie Las Palmas aussieht. Ein animiertes Auto rutscht animiert weg, animierte Steine rollen von Bergen auf Straßen. Über der ein Jahr zuvor von einem Vulkanausbruch verwüsteten Insel La Palma - gut 200 Kilometer westlich von Gran Canaria - ergießen sich über 130 Liter auf den Quadratmeter. Fast alle Flughäfen der Kanaren sind gesperrt, eine TUI-Maschine voller sonnenhungriger Pauschaltouristen kreist Ewigkeiten durch den Regen, ehe sie auf der Nachbarinsel Fuerteventura landen darf. Von all dem ahne ich in diesem Moment nichts, ich staune bloß weiter, welch mediale Aufmerksamkeit hier dem Regen gewidmet wird, die eher der Faszination als der Sorge geschuldet zu sein scheint. Schließlich ein überaus sehr gut gelaunter Moderator, der typisch Canario mit 50 Lauten pro Sekunde eine gute Nacht wünscht. Daraufhin in Dauerschleife von Handys gefilmte Bilder von Regen, Wasserfällen, Pfützen wie Seen, triefende Hunde und dann wieder Regen im Laternenschein. Darüber gut gelaunte Technomusik. Morgen fällt die Schule aus. Wenn die Lage ernst ist, dann sind die Canarios wirklich so tranquillo wie man sagt. Später im Bett frage ich mich, ob ich wohl einen Vulkanausbruch mitbekommen würde. Wahrscheinlich nicht, denn auch das Erdbeben, das 1993 das Rheinland erbeben ließ, habe ich verpennt. Tranquillo, tranquillo.