Tirana 1/3: Ankunft
05. März, vormittags.
Ich schlafe gefühlt herrlich aus, schaue nach dem gefühlt zehnten Umdrehen auf die Uhr und es ist gerade mal neun. Tag 1 in Tirana. Ich beschließe bei einem Kafe, die fünf Kilometer in die Stadtmitte zu Fuß zurückzulegen. Nach wenigen hundert Metern schwindet der Asphalt, nasser Lehm und Kiesel ersetzsen ihn und ich laufe durch ein Labyrinth aus neu Gebautem, vor längerer Zeit als Neubauten konzipiertem und hobbitgleich kleinen Häuschen dazwischen. Gerade war noch Stadt, schon ist`s ein Gewirr aus Zäunen und braunen Pisten, dicke Pfützen, um die die Hühner gackern. Noch bin ich guter Dinge.
In der Regel rühme ich mich eines recht guten Orientierungssinns. Da werde ich diesen recht viereckig und klobig aussehenden Komplex namens Tirana doch spielend meistern. Spoiler vorab: Ich habe es an keinem meiner sieben Tage in Tirana geschafft, mich nicht mehr oder minder kolossal zu verlaufen…oder auch mit dem Linienbus zu verfahren.
Nach den ersten zehn Minuten Laufen habe ich keine Ahnung mehr, aus welcher Richtung ich komme, geschweige denn, wo ich hinwill. Sicherlich, so sieht man jene Viertel, die in keinem Reiseführer stehen und so sehen die Bewohner eines dieser Viertel einen Mann, der seine Ratlosigkeit nur mühsam verbergend ein Stück zu lässig an einem Holzpfahl der Stromversorgung steht und unauffällig sein Handy in alle möglichen Richtungen dreht. Links von mir ist ein Laden, der Berge von ausgemusterten Fußballutensilien verkauft. Trikots aus der schwäbischen Kreisliga, gedehnte Leibchen mit dem örtlichen Getränkemarkt als Sponsor, vor allem aber Schuhe. Ich betrete den Laden, der eher ein Zelt ist und beginne begeistert zu wühlen. Begrüße bald den Ladenbesitzer mit einem fröhlichen “Ciao. Tutti calcio, hm?” Ein wenig bin ich noch in Italien und bereit, über das weltumspannende Phänomen des runden Leders zu kauderwelschen. Ein wenig bin ich in der Hoffnung, hier ein schönes altes FC-Trikot zu finden. Oder wenigstens eine halbwegs schöne Dorfclubtrainingsjacke. Der Verkäufer tritt auf mich zu und beginnt, die von mir leicht aufgewühlten Haufen wieder in ihre scheinbar urtümliche Ordnung zu bringen. Dabei ächzt und stöhnt, fast jammert er. Vielleicht kam ich zu plötzlich hier her, vielleicht bin ich auch zu schnell wieder gegangen. Vielleicht hatte er aber auch wirklich keine Lust, mir irgendetwas zu verkaufen, weil er seine Sachen eben in der Regel an bettelarme Menschen bringt.
Wieder draußen fehlt mir nicht nur die räumliche Orientierung, mir wird auch schlagartig klar, dass mir hier die mentale Orientierung fehlt. Ich weiß nichts über die Menschen hier. Nur, dass sie arm sind. Und freundlich sein sollen. Hier bin ich im Osten, hier bin ich Exot. Kein Schlendern durch Touristenfüße gewohnte sizilianische Gassen, kein Untertauchen als einer unter Euro-gleichen auf igendeiner kanarischen Promenade. Stattdessen Müll, lärmender Verkehr, Hunde, Katzen, Hühner, Kinder und Alte. Alles gleichzeitig. Kaum ein Erdgeschoss, in dem nicht etwas feilgeboten wird, keine zwanzig Meter ohne aus Folie und Gestänge improvisierten Verkaufsstand, ein Kohlehrill, ein Imbiss. Nach den Lehmpisten nun wieder Gehwege mit bunt alterierenden Stolperfallen und ich stolper durch, komplett ohne Ahnung. Ich finde nach drei in Sackgassen endenden Versuchen zur Hauptverkehrsstraße, von der ein Schild Richtung Quender weist. Zentrum. Links rum. Hinter mir ein verschachteltes Viertel aus alten Agrarflächen, einzelnen Hütten, mehr oder minder neuem Beton, Baustellen wie Parallelen und ich denke an Böll und seine sich über Köln in die Arme fallenden Kräne.
Nun aber konzentiert. Die offline-Map schickt mich mit ihrem nervösen geografischen Norden beständig, fast boshaft in die falsche Richtung, weg damit und ran ans Gehirn. Die erste Wegmarke an dieser autobahngleichen Stadtstraße ist ein Tempel aus Glas und weiß getünchtem Beton, wie er auch tausendfach in deutschen Speckgürtelgewerbegebieten steht. Hier beheimatet er jedoch keine Druckerei oder Spedition, sondern ein Krankenhaus. Amerikan Hospital 3 steht drauf. Unweit davon fließt die arme Lana schnurgerade in ihrem Betonkorsett besseren Zeiten entgegen, kommt frisch und fröhlich irgendwo aus den Bergen daher und wird bald von der Stadt eingepfercht und mit Resten gefüttert. Kurz vor der Innenstadt scheint sie im grünbraunen Schlamm förmlich stehenzubleiben und nicht weiterzuwollen, während alles um sie tost. Ich hingegen muss weiter, eine Bank finden und Euro in Lek wechseln. Damit könnte ich dann zum Beispiel Schuhe kaufen, die hier in wüsten Mengen aus jedem dritten Lokal quellen: Nike und adidas und Puma und nike. Auffällig oft werden diese Schaumstoff-Statussymbole als gjerman angepriesen. Aus den Läden plärrt die grelle elektronische Musik dieser Tage und vermengt sich mit der Geräuschkulisse der Straßen: Röhren und Hupen. Zwischendurch immer wieder die Trillerpfeife, mit der die Verkehrspolizisten hier wohlwollend ein orchestrales Brimborium dirigieren. Meine immer noch pantelleschische Luft gewöhnten Bronchien kratzen bereits jetzt derart, dass mir eine Zigarette wie eine Kurbehandlung vorkommt.
05. März, abends.
Den Rückweg in mein Viertel, das bis vor wenigen Jahren noch durchweg landwirtschaftlich geprägt war und im Anschluss wie schwanger vom Zement in Quadern aus der lehmigen Erde emporwuchs, gehe ich konservativ an und halte mich an meine Wegmarken. Vorbei am Amerikan Hospital 3, parallel zur Lana brav bei den Hauptverkehrsstraßen bleiben. Dieser Weg it einfach wie eintönig. Erste missmütige Anflüge befallen mich, denn etwas Schönes habe ich hier noch nicht entdecken können. Das gilt auch noch, als ich am endlosen Zaun der örtlichen Brauererei vorbeilaufe und halb hastend, halb schlendernd mir im Gedächtnis zu behalten versuche, dass es im dritten Kreisverkehr die zweite Abfahrt ist und im anschließenden kleinen Kreisverkehr eine irgendwie schräg den Kreisel pieksende kleine Straße ist, da steht dann halblinks und in meinem Notizbuch mit einem X vermerkt das Appartment.
Als ich am Vorabend am Flughafen Tirana ankam, wartete die Frau des Gastgebers mit einem Schild auf mich, auf dem fast fehlerlos mein Name stand. Das hatte ich mir immer gewünscht. Ihr Gatte fuhr derweil im Mercedes um den Flughafen herum, das Kalkül wälzend, was nun billiger ist: Im Kreis fahren oder Parkgebühren. Die Benzinpreise liegen hier - sofern ich das richtig umrechne - bei knapp 1,60 €, angesichts eines durchschnittlichen Lohns von nicht einmal 300€ ein gewaltiger Kurs. Für die 15 Kilometer Strecke vom Flughafen zum Appartment drücke ich meinem Vermieter später 20€ in die Hand, ein Taxi wäre günstiger gewesen, aber so ersparte ich mir das Suchen und Finden des Appartments im Dunkeln.
Pfadfinder gefunden. Die Heimkehr.
Diese fehlende Erfahrung sollte sich nun allerdings rächen: Ich hatte nicht viel mehr als den Hauch einer Ahnung, wie das Haus, in dem mein Bett steht, überhaupt von außen aussieht. Das ist in einer Stadt, in der die meisten Häuser sich sehr ähneln, keine gute Voraussetzung. Das ist in einer Stadt, die keine Hausnummern kennt, eine sehr schlechte Voraussetzung. Was ich in meiner Karte per X markiert hatte, führte mich an einen völlig unbekannten Ort. Das Handy zeigt das gleiche Resultat,lässt mich aber in die andere Richtung schauen. Summa summarum: Dort wo mein Bett stehen soll, da steht nichts, was mir auch nur im entferntesten bekannt vorkäme. Ungelogen über drei Stunden irre ich so durch einen vielleicht zwei Quadratkilometer großen Umkreis und finde und finde mein Appartment nicht. Komme immer wieder an den selben Gebäuden vorbei, die wie von Zauberhand an immer anderen Ecken zu stehen scheinen und fühle mich von den Passanten mittlerweile - zu recht - ein wenig bespöttelt. Ab und an frage ich jemanden, das Problem: Ich habe nur die Straße, meine selbstgemalte Karte und ein Handy ohne Roaming. Die Karte zeige ich nur dem ersten Passanten. Beim zweiten Passanten finde ich raus, dass nicht nur diese Straße so heißt, sondern eigentlich auch alle drumherum. Zudem trägt meine Straße - das erfahre ich vom Besitzer eines Schreibwarenladens - gleich zwei unterschiedliche Namen: Eine am Eingang, gleich nach dem kleinen Kreisverkehr, dort ist sie nach Alexander dem Großen benannt. Er lächelt. Am anderen Ende, gleich vor einem anderen Kreisverkehr ist sie - wenn ich es richtig verstehe - nach Alexander dem Makedonier benannt. Er lächelt noch breiter. Zudem gibt es sie in der Stadt wohl nochmal. Ich lächle auch. Leicht manisch.
Wenn ich noch ein Kind wäre, so hätte ich nun geschluchzt, so fluche ich still in mich rein, lasse mich vom lächelnden Schreibwarenhändler durch das Viertel begleiten, schließlich stehen wir an einem Ort, an dem ich wirklich im Leben noch nie war und er nickt und lächelt. Ich bedanke mich bei dem wirklich netten Mann und mache mich - kaum dass er weit genug weg ist - heimlich auf den Rückweg. Schließlich lasse ich mich in einer Schaufenster-Bar in einem Plattenbauinnenhof nieder, bestelle unter den großen, Billard spielenden einheimischen Augen ein Bier und trinke es gierig. Gierig vor allem deshalb, um die auf dem Billardtisch stehene Frage Was macht der denn hier? eindrücklich zu beantworten. Schließlich geht alles seiner gewohnten Bahn: Das Bier läuft meine Kehle runter und das Billardspiel läuft weiter. Meine analoge Abenteuerlust ist verflogen, ich bitte um digitale Erlösung, logge mich ins W-Lan des Café ein, begebe mich ins reich der Würdelosigkeit und schreibe meinem Vermieter. Er möge mich doch bitte, bitte abholen, ich fände nicht mehr heim.
Ich schäme mich, als er eine gute halbe Stunde später auf mich zukommt. Ich schäme mich und versuche, mir auf dem begleiteten Heimweg markante Stellen einzuprägen. Schuhgeschäfte, Autos und Beton. Dazwischen Essen. Um den Block das gleiche Bild, es scheint für 25 verschiedenen Blöcke nur acht wild durcheinander gestreute optische Gestaltungen zu geben. Das will ich meinem wirklich lieben Vermieter aber icht sagen. Stattdessen will ich - auch um von meiner Unfähigkeit abzulenken und elegant auf die doppelte Namensgebung der Straße zu verweisen - über Alexander den Großen plaudern und rausfinden, ob die Umbennenung Mazedoniens in Nordmazedonien etwas mit der zur Hälfte stattgefundenen Umbenennung der Straße zu tun hat. Er sagt nur: N Alexander Albanian! Mutter Alexander: Albanian. Alexander: Albanian. Ich lache still aber dennoch leicht hysterisch und klopfe ihm freundschaftlich deutsch auf die Schulter, was offenbar ein wenig zu weit geht. Dann weist er mir den Eingang ins Haus. Ich habe es noch nie gesehen. Wir gehen die Treppen hoch und er weist mir den Eingang in das Appartment. Langsam kenne ich mich wieder aus. Ich glaube, er hält mich seither und fortan für ein wenig dumm, was mich nicht davon abhält, erleichtert zu sein. Ich klopfe ihm nochmal auf die Schulter und bedanke mich. Falemenderit.